„Seit 2010 werden wir in der EU an den Pranger gestellt. Seit 2010 fragen sich alle politisch Interessierten: Was sind die Ungarn für ein Volk?“, sagt Magdolna Wiebe, Leiterin der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft traurig.
2010 gab es bei den Parlamentswahlen in Ungarn nicht nur einen Regierungswechsel, sondern einen regelrechten Rechtsruck. Die rechtsextreme Partei Jobbik wurde drittstärkste Kraft. „Die Gründe für dieses Wahlergebnis möchte ich den Menschen hier in Deutschland erklären“, sagt Magdolna Wiebe. „Von den Folgen der Globalisierung und der Regierungszeit der sozial-liberalen Koalition zwischen 2002 und 2010 ist hier wenig bekannt. Über den Verfall der politischen, aber auch der gesellschaftlichen Moral in Ungarn, über die wachsende soziale Not der Menschen drang wenig Kritisches in den Westen.”
Magdolna Wiebe, die in Budapest aufgewachsen ist, erzählt von Misswirtschaft, Unzufriedenheit, davon, dass ihr Heimatland von der Pleite bedroht war. „Deshalb habe ich einen Politologen und den ungarischen Botschafter aus Berlin als Referenten in die Auslandsgesellschaft eingeladen.“ Ihr Ziel ist es immer, die interessierten Zuhörer umfangreich zu informieren. Ihr ist es wichtig, dass nicht das ganze ungarische Volk pauschal in eine Ecke geschoben wird. „Wir müssen Gespräche führen, wir müssen Hintergründe erklären, um die Entwicklungen in Ungarn den Außenstehenden näher zu bringen.“ Auch der ungarische Schriftsteller György Dalos, der 1977 zu den Mitbegründern der demokratischen Oppositionsbewegung in Ungarn gehörte, wurde häufig als kompetenter Gesprächspartner nach Dortmund eingeladen. Unterstützt wird Magdolna Wiebe bei diesen Programmangeboten von kompetenten Partnern: dem Europe Direct Informationszentrum etwa.
Doch auch abseits der Diskussionen um die aktuelle politische Situation in Ungarn organisiert die Leiterin des Deutsch-Ungarischen Länderkreises zahlreiche Veranstaltungen, um ihre alte Heimat facettenreich zu präsentieren. Dazu gehören auch Lese- und Musikabende, teilweise in ungarischer Sprache. Ganz aktuell ist das Thema „25 Jahre Grenzöffnung“. Dieses bürgerschaftliche Engagement, das 1989 die Mauer zu Fall gebracht habe, dürfe niemals verloren gehen, sagt Magdolna Wiebe. „Wenn wir alle zusammenhalten, auch grenzübergreifend, dann kann man so viel erreichen.“ Gerade jetzt, beim 25-jährigen Jahrestag des Mauerfalls, bekomme man doch wieder vor Augen geführt, was Menschen alles bewegen können. Übrigens auch die Menschen in Ungarn.
„Damals war Ungarn das Lieblingskind aller“, erinnert sich Magdolna Wiebe; die Ungarn haben ja als Erste den DDR-Touristen die Grenze geöffnet. Die Sympathie änderte sich schlagartig mit den Wahlen im Jahr 2010. „Wir sind plötzlich das schwarze Schaf in der EU. Das tut weh.“
„Gerade noch gehörten wir zum Ostblock. Jetzt sind wir in der EU. Die Zeit dazwischen ist noch zu kurz, um eine Kultur des politischen Dialogs zu etablieren“, sagt Magdolna Wiebe, die viele der angebotenen Veranstaltungen selbst moderiert. Dabei versteht sie sich als Brücke zwischen den Nationen – so wie ihr Heimatland, das eingezwängt ist zwischen Ost und West und in dieser Funktion seine Rolle sucht.
Ihre Familie war in den 1950er- und 1960er-Jahren selbst noch ein Opfer der kommunistischen Politik in Ungarn und ideologischem Druck ausgesetzt. „Es herrschte eine bedrückende Atmosphäre in Ungarn. Obwohl ich wirklich eine glückliche Kindheit hatte, wollte ich nur raus“, erinnert sich Magdolna Wiebe. Da der Vater weder Arbeiter noch Bauer, sondern Kaufmann war, wurde ihr der Zugang zur Universität verwehrt. „Da habe ich alles unternommen, um eine Ausreise in die BRD zu bekommen. Ich sagte, dass ich meine Deutsch-Kenntnisse erweitern wollte.“
Magdolna Wiebe erzählt von dem langwierigen Gezerre um ihre Ausreise, von dem Verhör im Innenministerium. „Aber das Wunder geschah. Ich bekam einen Pass, um die Familie meines Brieffreundes in der BRD zu besuchen.“
Doch das neue Leben im Westen begann mit einem Hindernis. Das ungarische Abiturzeugnis der jungen Magdolna wurde nicht anerkannt und sie konnte in Deutschland kein Studium aufnehmen. Sie machte das Abitur erneut, diesmal in Deutschland, studierte Lehramt (Mathematik und Erdkunde) in Münster, heiratete einen Deutschen und nahm die deutsche Staatsangehörigkeit an. „Ich habe sehr viel Glück gehabt. Ich bekam viel Unterstützung“, sagt Magdolna Wiebe dankbar.
Nach 10 Jahren Mathematikunterricht übernahm sie 1982/83 an mehreren Einrichtungen den Ungarisch-Unterricht. Auch an der Auslandsgesellschaft in Dortmund. „Das gefiel mir sehr gut. Die Erwachsenen zwischen 18 und 60 Jahren sind aus verschiedenen Gründen stark motiviert, diese Sprache wirklich zu erlernen, und ich konnte auch noch die ungarische Kultur vermitteln.“
1995 übernahm Magdolna Wiebe ehrenamtlich die Leitung der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft. Dort hat sie auch hautnah die Auswirkungen des politischen Umbruchs in Europa auf ihre Arbeit zu spüren bekommen.
„Vor dem Mauerfall lag der Schwerpunkt unserer Arbeit auf landeskundlichen Vorträgen, Reisetipps, Filmabenden, Vorträgen zur Geschichte, Literatur, Volkskunst, Volksmusik mit Konzerten der Gruppen Kaláka, Vízöntö und des Mandel-Quartetts. Nach 1989 jedoch hat sich sehr viel verändert. Vor allem nahm die Bedeutung Ungarns als beliebter Treffpunkt für Ost-West Begegnungen ab. Dafür hat sich das Interesse für die Ausgestaltung der jungen Demokratie verstärkt. Aus diesem Grund haben wir Gesprächspartner eingeladen, die über die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung referierten und sich den notwendigen Diskussionen stellten. Etwa Diplomaten, die die Situation in Ungarn darstellen sollten. Die Reisefreiheit und die neuen Reisemöglichkeiten erlaubten aber auch, mehr Schriftsteller, Künstler, Musiker nach Dortmund einzuladen.“
Sie erzählt mit Freude, dass sie so renommierte Schriftsteller wie Péter Esterházy, László Krasznahorkai, Ervin Lázár, Ádám Bodor, László Márton und György Konrád, sowie die Pulitzer-Preisträgerin Erzsébet Schäffer in Dortmund begrüßen konnte. Dank der von der Robert Bosch-Stiftung ausgerichteten Adelbert-von-Chamisso Preisträger-Abenden waren auch die Schriftsteller György Dalos, Léda Forgó, László Csiba und Ákos Doma zu Gast. Die ungarische Schauspielerin Kriszti Kiss hat an zahlreichen Leseabenden Werke bereits verstorbener Schriftsteller und Dichter wie Sándor Márai, Dezsö Kosztolányi, Frigyes Karinthy, Attila József, Ágota Kristóf, Antal Szerb, Ferenc Molnár mit großem Erfolg vorgestellt. Die in Münster lebende ungarische Sängerin Tünde Gajdos bereichert mit ihrem Konzertprogramm ungarischen und klassischen Liedgutes seit Jahren die traditionellen Weihnachtsfeier der deutsch-ungarischen Gesellschaft. Durch die Gastauftritte der im Ruhrgebiet beheimateten Schauspielerriege Kriszti Kiss, Claus-Dieter Clausnitzer, Stefan Keim und Dieter Treeck sind die Weihnachtslesungen der DUG zu beliebten Treffpunkten geworden. Das erfolgreichste Jazzpianisten-Duo aus Ungarn - György Vukán und Béla Szakcsi-Lakatos - sowie das Vukán-Trio konnten mit ihren Auftritten mehrfach die Jazz-Liebhaber in Dortmund begeistern. Darüber hinaus war der Bonner Dokumentarfilmer Dr. Michael Kluth war mit seinen Portraitfilmen über ungarische Schriftsteller und über ungarische Landschaften häufiger Referent bei der DUG.
Im Frühling 2015 wird die gerade erschienene erste Biografie des berühmten Operettenkomponisten Paul Ábrahám durch den Autor Klaus Waller zum ersten Mal im Rahmen des Programms der Deutsch-Ungarischen Gesellschaft vorgestellt. Bereits 1971 ist eine von der Stadt- und Landesbibliothek herausgegebene Anthologie der ungarischen Literatur erschienen. Es folgten 1986 die Anthologie ungarischer Prosa zeitgenössischer Autoren (mit einem Vorwort von Siegfried Lenz) und 1990 eine Anthologie ungarisch-deutscher Prosa und Lyrik, die vom ungarischen Staatspräsidenten Árpád Göncz als „seltenes, authentisches Zeugnis“ gewürdigt wurde.
Viele Veranstaltungen mit ungarischen Gästen, Künstlern waren nur dadurch möglich, dass Magdolna Wiebe die Gäste bei sich zu Hause aufgenommen hat.
Politik, Wirtschaft, Geschichte, Städtebau, Umweltschutz, Minderheiten – kaum ein wichtiges Thema, zu dem die DUG nicht einen oder mehrere kompetente Referenten geladen hätte. Und auch die Gegenwart wird nicht vergessen: Magdolna Wiebe strahlt, wenn sie von steigenden Zahlen in der Tourismusbranche erzählt: 21,5 Millionen Gäste-Übernachtungen gab es 2012. Der wichtigste Quellmarkt für Ungarn ist Deutschland, mit rund 569.600 deutschen Urlaubern. Budapest und Balaton sind nach wie vor die beliebtesten Regionen mit über 30 Prozent Wachstum im Spa- und Wellnessbereich. Rund 70.000 Ferienhäuser auf ungarischem Boden sind in deutschem Besitz. Diese sind nicht in den Besucherstatistiken enthalten. Ebenfalls nicht mitgerechnet sind die circa 130.000 Schiffspassagiere, davon circa 70.000 Deutsche, die auf der Donau eine Flusskreuzfahrt unternehmen.“
Mit großer Freude erzählt sie weiter von der ständig steigenden Anzahl ausländischer Studenten an den Universitäten: „Dieses Jahr sind es 31 Jahre, dass Ungarn ausländische Studenten an staatlichen Universitäten in fremdsprachigen Studiengängen aufnahm. Im vergangenen Jahrzehnt haben aus 52 Ländern 18.000 ausländische Studenten an ungarischen Universitäten studiert und Diplome an deutsch- und englischsprachigen Fakultäten erworben.”
Zum Schluss blickt sie optimistisch in die Zukunft: „Unser Land wird Europa nicht nur mit seiner Gastfreundschaft und Herzlichkeit, sondern auch mit der ihm eigenen Kultur weiterhin bereichern.”
Sie sagt „unser Land“, obwohl sie den deutschen Pass hat. „Ja ich bin Deutsche. Ich liebe dieses Land, die deutsche Sprache, die Literatur, die Musikkultur, die Geisteshaltung. Aber mein Herz ist zweigeteilt und meine Seele sucht immer noch nach der Heimat”, sagt Magdolna Wiebe.
Zur Historie:
1971 fanden in Dortmund die „Auslandskulturtage Ungarn“ statt, die erste Veranstaltung mit einem Land des Ostblocks und die größte Präsentation ungarischer Kultur im westlichen Ausland. Die Deutsch-Ungarische Gesellschaft war geboren.
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